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Hans Karl Peterlini

Die Phantomschmerzen der Geschichte

Geteiltes Land, Unrechtgrenze, historische Geisterbeschwörung – über die schier unendliche Halbwertzeit des Tiroler Weltkriegstraumas / Echo, Innsbruck

Vielleicht liegt es daran, dass die eine – Südtiroler – Symbolfigur der jüngeren Tiroler Leidensgeschichte nur mit einem Bein aus dem (Zweiten) Weltkrieg heimkehrte und einer von zwei Kriegen frustrierten Generation energisch voraushumpelte: Der kriegsversehrte, beinamputierte Silvius Magnago wurde zur plastischen, ikonographischen Darstellung des Tiroler Trennungsdramas. Die andere – Nordtiroler – Symbolfigur trotzte wie ein wind- und wettergegerbter Felsvorsprung Richtung Süden, Eduard Wallnöfer, der Bauernmensch und Gebirgslandeshauptmann, unversehrt, aber um einen Teil seiner Heimat gebracht.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tirol amputiert, es verlor seinen Unterleib. Die Neuziehung von Grenzen mitten durch historisch gewachsene Gemeinschaften stellt zweifellos eine Verletzung im kollektiven Unbewusstsein dar, Europa trägt heute noch – nicht nur an der Brennergrenze – an den Phantomschmerzen aus dem Ersten Weltkrieg. Der abgetrennte Hax, der amputierte Arm, die verlorene Zehe mögen im Alltag in Vergessenheit geraten, es lässt sich leben auch ohne sie. Aber bei geringster Erinnerung – durch Jubel- und Opfertage, Protest dafür und Protest dagegen – ist der Schmerz wieder da, und mit ihm der Zorn und der Hass.

Und doch: Jede Wunde, jede Narbe, jede Abschürfung, die wir im Leben davontragen, wird immer auch zu einem Stück von uns. Das heutige Südtirol ist nicht vorstellbar ohne die Amputation vor bald 85 Jahren, im Gegenteil: Südtirol hat aus dem Trennungsschmerz eine neue Identität gewonnen, die Trotz- und Tränenidentität der 50er, 60er Jahre, die „Hurra-wir-leben-noch“-Identität der 70er, 80er Jahre, der eitle Protzrausch der Sondertiroler der Gegenwart. Nordtirol hatte die undankbarere Rolle: Musste weinen um uns, musste Trost und Geld spenden für uns, musste Sprengstoff liefern für uns und Attentäter aushalten, musste zusehen, wie wir die Tränen zu Gold machen und an der Solidarität hybrid werden.

Nicht, dass sich das nördliche Tirol nicht gut entwickelt hätte in dieser Zeit: Es war genauso tüchtig wie Südtirol, vielleicht tüchtiger, es ist genauso modern wie Südtirol, vielleicht moderner. Aber die besonderen Tiroler waren wir. Im Ersten Weltkrieg hat Österreich eine Totalamputation erfahren, der schmerzhafteste Eingriff aber war die Abtrennung Südtirols: Die ganze Monarchie war futsch, aber mit Südtirol verlor Österreich ein eigen‘ Kind. Hier hakte sich der österreichische Komplex seiner verlorenen Größe fest. Von nun an war Nordtirol der brave verbliebene, Südtirol der unglückliche verlorene Sohn. Ihr durftet mitleiden, aber wir litten, ihr durftet mithelfen, aber wir ließen uns helfen, ihr durftet für uns Masten sprengen, aber wir waren die Helden. Ihr hattet die Last an der Trennung, wir zuerst das Leid und dann die Lust.

Und jetzt? Jetzt dreht sich wieder (fast) alles nur um uns. Denn ohne Südtirol habt ihr keinen Zugang zum Meer, so wie das Trentino keinen Zugang nach Norden hat. Die Nordtiroler können nicht Italienisch, die Trentiner nicht deutsch, wir beides. Die Europaregion Tirol, die lange eine Prothese wider die Amputation sein sollte, ist im Südtiroler Selbstverständnis ein Planetenring geworden, der sich um die Sonne dreht, und die Sonne sind wir. Es ist Südtirols Undank, dass es Nordtirol seine besondere und zentrale Lage, ja sogar seine italienische Verfeinerung spüren lässt, gegen die es sich dann gegenüber Rom trotzig wehrt; es ist Südtiroler Rache gegenüber dem Trentino, dass es dieses gerade mal mitnaschen lässt am großen Tiroler Selbstwertgefühl. Auch da ist nichts verheilt, sondern alles nur vernarbt. Südtirol-Nordtirol-Trentino sind imstande, mit sehr viel Eifersucht eine Landesausstellung zusammenzutragen; im politischen und wirtschaftlichen Alltag verkümmern die konkreten Projekte: Universität, Flughafen, Transit – überall hatten bisher die Alleingänge Vorrang. Das Hypo-Drama war, bei aller Schändlichkeit, eine verdiente Retourkutsche.

 

Wo Tirol sich auf die Schulter klopft und Bruderschaft zuprostet, ist es meist scheinheilig. Es wird kein geeintes Tirol mehr geben, nicht jenes, das 1919 auseinandergerissen wurde. Das wäre eine Rückführung in einen überholten Zustand. In einem schrägen Witz wird der in punkto Frauen ahnungslose Jesus von einer Frau verführt, aber als er merkt, dass sie zwischen den Beinen nichts hat, heilt er sie zu ihrem Entsetzen. Verwundungen, durch Zeit und Entwicklung entstandene Unterschiedlichkeit sind keine behebbaren Mängel, sondern können Quelle von Kreativität und Kraft sein. Wir sollten sie nicht leugnen, sondern annehmen, ausleben.

Nicht nur das geeinte Tirol, auch das geteilte ist eine Vision wert: Der Kultur- und Wirtschaftsraum von Kufstein bis zum Gardasee ist von einer berauschenden Geschlossenheit und Gegensätzlichkeit, einer der schönsten Flecken in den Alpen. Die europäische Herausforderung heißt nicht mehr, die Grenze zwischen diesem Land zu bejammern, zu leugnen oder rückgängig zu machen, womöglich durch Ziehung neuer Grenzen und Zufügung neuer Wunden. Sondern: mit der Grenze zu leben und aus ihr die Spannung für ein europäisches Tirol zu ziehen. Lernt Italienisch, Freunde, und wir mögen lernen, dass wir nicht der Nabel Tirols sind, geschweige denn jener der Welt.


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